Hamburg
Germany
Dreieinigkeitskirche St. Georg, vor dem Hauptportal Names and Stones - Wind Rose II since 1 December 1994
unknown
Besuch bei Erwin's Stein auf St. Georg

Erwin Matalla
*15.12.1953 Trier  †25.8.1996 Hamburg

Erwin hab ich im Tangerine in Frankfurt kennengelernt am Samstag, dem 5.3.1983. Ich studierte damals in Heidelberg Biologie, verbrachte das Wochenende in der schwulen Scene und kam gerade aus der Sauna. Ich fand den Mann hinter der Nickelbrille interessant. Er fand den Mann hinter dem Metallcockring interessant, den ich an einem Lederband um den Hals trug. Er sprach mich an mit der Frage, was ich da für ein besonderes Bier tränke in dem besonderen Glas – es war Tuborg. Wir gingen nicht miteinander nachhause sondern verabredeten uns für den nächsten Tag auf der Wahlparty der Grünen. Nach der ersten Hochrechnung war klar, dass Kohl Kanzler werden würde, und wir beschlossen die neue Zeit bei ihm zuhause auf unsere Weise einzuläuten.

Danach sahen wir uns jedes Wochenende. Im Mai lernte ich seine Familie in Trier kennen. Im Sommer sollte meine Diplomarbeit fertig sein und ich hatte mich auf eine Stelle in Berlin beworben. Erwin arbeitete als Sozialarbeiter mit Problemkindern und hatte ebenfalls Lust auf eine Veränderung. Mit seinem Lada sind wir zusammen in Urlaub gefahren, Berlin beschnuppern und dann vier Wochen durch den Norden: Hannover, meine Heimatstadt Bremen, Rømø, Sylt, Föhr, Amrum, Hamburg, und ein Schwules Sommercamp in der Lüneburger Heide. Mit dem Tuborg war für mich schnell Schluss: Bei mir wurde eine chronische Hepatitis B festgestellt, nachdem die Hautklinik in Heidelberg schwule Freiwillige zu AIDS-Ausschlusstesten suchte.

Im Oktober 1983 zogen wir nach Berlin. Wir wollten nicht zusammen wohnen, Erwin zog in den Wedding, ich nach Kreuzberg, die U8 non-stop unter des Ostens Mitte verband unsere Beziehung. Diese Beziehung war immer offen. Wir teilten unsere Erfahrungen mit anderen Männern, und manchmal auch die Männer. Auch innerhalb der Beziehung gebrauchten wir Kondome „damit wir in Übung blieben“. Erwin arbeitete als Erzieher in einem Kinderladen, ich an der Freien Universität in Dahlem. Erwin verbrachte viel Zeit beim Weben – er hatte in Frankfurt nach eigenen Plänen einen Webstuhl anfertigen lassen. Ich verbrachte viel Zeit beim Rosa Igel, der Schwulengruppe der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz (AL). Zusammen spielten wir Volleyball im Vorspiel SSV. 1986 zogen wir dann doch zusammen - aber nicht allein sondern zu viert in eine neu gegründete Wohngemeinschaft in Tiergarten-Süd, nicht weit von der schwulen Lederscene. Die Zimmer wohlgeplant nicht nebeneinander, damit einen der Sex mit den anderen Männern nicht zu sehr ablenkt.

Nach dem ersten Smogalarm mit Autofahrverbot im Februar 1987 – natürlich nur im Westteil der Stadt – begann die Suche nach einem neuen Wohnort mit viel guter Luft. Ich bekam ein Forschungsstipendium der DFG an der Christian-Albrechts-Universität und im Juli 1988 zogen wir nach Kiel, diesmal allein zu zweit. Wohl wissend dass wir in Kiel einiges entbehren müssten, wurde ein Honda Civic gekauft (den Lada gab es längst nicht mehr) und ein Zimmer in Untermiete gesucht mitten in der Lederscene in Hamburg. Erwin begann eine Ausbildung für Klienten zentrierte Gesprächsführung nach Rogers und wurde der erste Hauptamtliche Mitarbeiter der Aids-Hilfe Kiel. Beide engagierten wir uns in der Homosexuellen Alternative Kiel (HAKI), machten Prävention im Schrevenpark, und halfen der Kulturwoche LebensArt auf die Beine.

Uns verband auch die Lust zum Reisen, lange Reisen wie auch Städtetrips. So fuhren wir zusammen auf die Seychellen, nach Dänemark, Schweden, in die Niederlanden, Belgien, Frankreich und mehrmals in die Vereinigten Staaten und nach Kanada. In Laguna Beach, California passierte dann das, was nicht passieren sollte: Das Kondom riss. Es war der 3.6.1991, er hieß Thom, das Kondom war ein extra-starkes Hot Rubber ohne Reservoir, aber das Gleitgel fehlte.

Die neue Situation mit dem Virus machten viele Gedanken frei. Inzwischen arbeitslos, bewarb ich mich als Pharma-Referent und zog im November 1992 nach Hamburg. Erwin wollte nicht nochmal aufs Neue beginnen. Wenn er krank wird, würde er die guten Freunde brauchen, die er jetzt in Kiel hätte. Und in der Aids-Hilfe Kiel kann er Gebrauch machen vom Buddy-System, das er selbst mit aufgebaut hat. Er war froh, dass durch meinen Umzug ein bisschen Abstand entstand. Er wollte sich noch mal verlieben.

Pharma-Referent war nichts für mich. Durch Erwin hörte ich von einer halben Stelle bei der Aids-Hilfe für die Kreise Pinneberg und Steinburg. Im Juli 1993 begann meine zweite Karriere als Sozialarbeiter in Elmshorn. Mitgelebt durch die Klienten zentrierte Gesprächsführung und durch diverse Betreuungssituationen habe ich viel von Erwin gelernt. Insbesondere sein Talent, zwischenmenschliche Situationen zu analysieren und in Worte zu bringen, hat mich fasziniert.

Als Erwins T-Zellen bereits nach 3 Jahren unter die 500 rutschen, waren wir bestürzt. Erwin begann seine erste Kur auf Norderney, wo seine Eltern und ich ihn besuchten. Schon bald wurde das Städtische Krankenhaus Kiel durch das UKE in Hamburg ersetzt: Pneumocystis carinii Pneumonie und dann auch noch Kaposi. Erwin versuchte sogar eine Autoimmuntherapie in Düsseldorf, die antiretroviralen Mittel brachten nicht den erwünschten Erfolg.

Als ich im Februar 1995 eine volle Stelle als Präventionsarbeiter in Hannover angeboten bekam, war mir seine Zustimmung sehr wichtig. Denn ich wollte schnell bei ihm sein können, wenn es ihm schlecht geht. Im April desselben Jahres verbrachte er zwei Wochen mit seiner guten Freundin Gilo auf La Palma, danach gings ins UKE. Im Mai und Juni verbrachte er jeweils mehrere Wochen auf Sylt, auch mit seinen Eltern. Zusammen feierten wir den Start des Aids-Projects Sylt, das ich seit einem Jahr vorangetrieben hatte. Im September 1995 fuhren wir zusammen nach Sitges, danach gings gleich wieder ins UKE. Seinen Geburtstag am 25.12. feierten wir zusammen in Kiel.

Erwin war zufrieden mit seinem Leben, dass er so viel von der Welt gesehen hatte, so viele nette Menschen kennengelernt hatte und so viele Erfahrungen gemacht hatte – mehr als manche mit 80. Und verliebt hat er sich sicher noch zwei Mal. La Palma hatte es ihm angetan und er hat die Insel im Februar 1996 noch ein zweites Mal besucht. Danach wurde das UKE zur zweiten Heimat.

Am 9. Juni bekam Erwin einen Pneumothorax. Ich war in Hamburg und konnte innerhalb kurzer Zeit bei ihm sein. Von nun an hing er an einem Schlauch. Am 28 Juni bekam er auch auf der anderen Seite einen Pneumothorax. Ich kam gerade aus Hannover und fand ihn im OP. Von nun an hing er an zwei Schläuchen. Am 17. Juli gings in die Lungenfachklinik nach Großhansdorf, ein letzter Versuch die Lebensqualität zu verbessern. Seine Eltern waren inzwischen aus Trier gekommen. Beginn August ließ sein Lebenswille nach, aber zum Sterben wollte er zurück ins UKE, wo er all die Ärzte und Schwestern inzwischen gut kannte. Hier wurde er von Nils Christiansen von der Aidsseelsorge Hamburg am 22. August gesegnet. Am 25. August 1996 ist er in Anwesenheit von seinen Eltern und mir gestorben.

Erwin wurde in seiner Wohnung in Kiel aufgebahrt und am 28. August 1996 auf dem Südfriedhof beigesetzt. Seinen Grabstein hatte Erwin selbst entworfen, eine dreieckige Pyramide mit einer 'Brustwarze' oben drauf.

Schön, dass jetzt nach 15 Jahren ein Namensstein in Hamburg hinzukommt!

(vorgelesen durch Pastor Detlev Gause bei der Steinlegung am 28. August 2011)

21 October 2013
Jörn Wolters, Amsterdam