Kassel
Germany
in front of Kunsthalle Fridericianum, foot of stairs to portal Names and Stones - Hommage since 2 June 1992
unknown
Namen auf Steinen
Wenn ich auf Reisen gehe, schaue ich vorab eigentlich immer in Axel Schocks 2007 erschienenen Reiseführer Schwule Orte, in dem „150 berühmt-berüchtigte Schauplätze“ in Deutschland, Österreich und der Schweiz vorgestellt werden, die kultur- und/oder gesellschaftshistorisch andersrum aufgeladen sind.
Letzte Woche war ich im nordhessischen Kassel, und Schock verzeichnet für die documenta-Stadt genau einen Eintrag, der – natürlich – mit der weltweit wohl bedeutendsten Ausstellung zeitgenössischer Kunst zu tun hat.

Auf der documenta IX (1992) startete der Künstler Tom Fecht ein auf acht Jahre angelegtes Projekt, das den Menschen gewidmet ist, die an den Folgen von AIDS starben. Ihre Namen oder Initialen sind in Pflastersteine gemeißelt, die bis zum Jahr 2000 in mehr als 40 temporären und festen Installationen arrangiert wurden. Mit Mémoire nomade (Namen und Steine) schuf Fecht ein „nomadisierendes Gedächtnis und ein europaweites Epitaph des Gedenkens und der praktischen Solidarität mit HIV-infizierten Menschen“.
Das Kasseler Fragment sei, so Axel Schock, als Hommage an die vielen von AIDS betroffenen Menschen aus dem Kunstbereich zu verstehen, und in der Tat finden sich Namen wie Rock Hudson, Klaus Nomi oder Keith Haring auf den Steinen. Manchmal sind nur Initialen oder Symbole eingemeißelt, und auch an verstorbene Frauen wird hier erinnert, was sowohl Kunstwerk als auch Virus zu Recht aus einem rein schwulen Kosmos herauslöst.

Die Pflastersteine schmiegen sich in drei schmalen Reihen recht unscheinbar an die Stufen des Fridericianum, welches nicht nur der zentrale Ausstellungsort der alle fünf Jahre stattfindenden documenta ist, sondern auch in den vier Jahren dazwischen überregional als wichtiger Standort für die Präsentation zeitgenössischer Kunst wahrgenommen wird. Das heißt: Tausende von Menschen steigen darüber hinweg, aber nur wenige werden darüber stolpern.

Gedenksteine, die ein bisschen größer sind, als die restlichen Pflastersteine des Friedrichsplatzes. Steine, die ein bisschen auffallen, aber nur, wenn man genau hinschaut. Steine, die im Gegensatz zu ihren wesentlich zahlreicheren kleinen Kollegen, kaum betreten und noch seltener befahren werden. Steine die zu einer Gruppe formiert, in einer langen Reihe, rücklings zur Wand verlegt sind. Steine, in die – wie in Grabsteine – Namen gemeißelt sind. Steine, die man überwinden muss, um in den Tempel der Kunst zu gelangen.

Je mehr ich darüber nachdenke, desto bedeutsamer erscheint mir der Ort, an dem die Gedenksteine verlegt sind. Positive Gedanken kollidieren unmittelbar mit negativen: Aufmerksamkeit, Ausgrenzung, Erinnerung, Friedhof, Gemeinschaft, Hemmung, Minderheit, Pranger, Randgruppe, Schutz, Tod, Unsichtbarkeit, Zentrum… Mit jedem neuen Wort potenzieren sich in meinem Kopf die Lesarten der Installation. Und in Eurem?

Anmerkung:
Wer beim Lesen an die Stolpersteine denken musste, die Gunter Demnig seit 1992 verlegt… mir ging es genauso. Die Ähnlichkeit ist – trotz unterschiedlicher Ausführung –  frappierend: angefangen bei der oben angeführten Assoziationskette bis hin zur europaweiten Ausdehnung. Dass die beiden Kunstprojekte sich in irgendeiner Form voneinander ableiten, habe ich jedoch nirgendwo finden können und deshalb im Text auch keinen Bezug darauf genommen.

Photos © Marc Lippuner high class schwulenkram

26 April 2016
Marc Lippuner, Berlin